Interview mit Ulf Preuss-Lausitz

Interview mit Ulf Preuss-Lausitz als PDF

Wie bist du denn selber zur integrativen Pädagogik gekommen?

Wissenschaftliche Begleitung der Gesamtschulentwicklung

Ich habe mein Diplom in Soziologie gemacht, nach meiner Lehrerausbildung und einigen Jahren als Hauptschullehrer. Ich bin eingestellt worden im Pädagogischen Zentrum 1969 als Referent für Bildungsforschung in der damaligen Abteilung Soziologie. Einer der MitarbeiterInnen im Schwerpunkt Gesamtschule war Joachim Lohmann, der später nach Kiel nach Schleswig-Holstein gegangen ist. Lohmann hat ganz engagiert im Bereich Gesamtschulentwicklung zusammen mit Carl-Heinz Evers und anderen die Gesamtschulentwicklung aufgebaut und begleitet, auch in anderen Bundesländern. Ich war in einem speziellen Team zur wissenschaftlichen Begleitung der Berliner Gesamtschulen. In dem Kontext haben wir einen Kongress vorbereitet, der hieß so hübsch: »Sonderschüler in der Gesamtschule?« Also nicht etwa »Sonderpädagogische Förderung in der Gesamtschule«, wie man später gesagt hätte. Da habe ich mich zum ersten Mal mit dieser Adressatengruppe beschäftigt. Ich habe also keinen biografischen und sonstigen Hintergrund dafür. Ich habe diesen Kongress mitorganisiert und durchgeführt und war ganz empört, als ich dann die Datenlage studiert habe. Diese soziale Ungleichheit galt vor allem für SchülerInnen, die in der Schule für Lernbehinderte waren, damals hieß sie, glaube ich, noch Hilfsschule. Begemanns berühmtes Buch zur sozialstrukturellen Benachteiligung ist ja auch 1969 erschienen, war gerade auf dem Markt. Wir haben gehofft, dass die soziale Ungleichheit durch Gesamtschule abgebaut würde bei dieser Adressatengruppe. Also der Anfang war nicht Gemeinsamer Unterricht in der Primarstufe, sondern Gemeinsamer Unterricht in der Gesamtschule. Das war der Anlass. Ich habe dann auch meine Dissertation zu diesem Thema ausgearbeitet. Ja, das war der Ausgangspunkt.

Forderung: Auflösung der Hilfsschule

Ich habe dann sehr offensive Artikel geschrieben in einschlägigen Fachzeitschriften, es gab eine riesen Aufregung, weil schon damals die Forderung nach Auflösung der Hilfsschule bzw. Schule für Lernbehinderte (aber nur dieser) formuliert worden ist mit der Begründung: Hier wird eine sozial benachteiligte Population ausgegrenzt. Und unser Team hat schon damals bezweifelt, ob das effektiv ist, was dort stattfindet, Wir wussten ja, dass sie keine Schulabschlüsse erhalten. Diese Perspektive haben wir schon damals scharf kritisiert.

Und wie ging es dann weiter, du hattest dann deine Dissertation in dem Bereich geschrieben?

Fokus Gesamtschule

Naja, ich bin ja früh Hochschullehrer geworden und habe absurderweise parallel dazu meine Dissertation geschrieben und das Thema Gemeinsamer Unterricht oder Integration immer mitverfolgt, zuerst in Bezug auf Gesamtschulen. Ich habe zugleich Gesamtschulen begleitet; gerade die frühen Gesamtschulen, zum Beispiel in Hannover, haben Kinder sowohl mit körperlichen Beeinträchtigungen als auch mit Lernschwierigkeiten aufgenommen. Das war für viele Gesamtschulen ein ganz wichtiges Thema. Ich bin dann aber zu der Einsicht gekommen, dass man früh anfangen muss, in der Primarstufe. Ich habe ja auch GrundschullehrerInnen ausgebildet. Die Zusammenarbeit mit den anderen IntegrationskollegInnen ist allerdings auch schon relativ früh entstanden, die informelle Kooperation mit Hamburg, mit Frankfurt, mit Bremen, mit dem Saarland, das hat schon relativ früh angefangen.

Wohnortnahe Integration

Die zweite Hälfte der 70er Jahre war außerdem geprägt durch ein interessantes Projekt. Ich habe mich gefragt, was würde passieren, wenn man alle SchülerInnen, die bisher in Sonderschulen sind, flächendeckend integriert in wohnortnahen Schulen. Ich habe dann von der PH Berlin aus, wo ich seit 1973 Hochschullehrer war, das am Beispiel des Bezirks Schöneberg durchgerechnet. Ich habe alle Sonderschulen in Berlin angeschrieben, die wurden gefragt, welche Schüler haben Sie in welchem Schuljahr aus Schöneberg, mit Name und Adresse (damals gab es keinen Datenschutz), mit welcher Behinderung bzw. welchem sonderpädagogischen Förderbedarf? Das wurde grafisch dargestellt, wo wohnt ein blindes Kind in Schöneberg, wie viele sind das überhaupt innerhalb der zehn Pflichtschuljahre, in welche nahe Schule würde es gehen usw. Das wurde dann dem Bezirk vorgelegt; die waren schwer beeindruckt, wie wenig Kinder das eigentlich wären pro Schule, pro Schuleinzugsbereich. Und daraus entstand das Konzept wohnortnaher Integration aller Kinder, aller. Daraus entstand das Uckermark-Konzept. Das Uckermark-Konzept war kein Projekt, das die Eltern initiiert haben, im Gegensatz zur Fläming-Schule, sondern das ist quasi aus diesem Vorlaufprojekt entstanden. Unterstützt wurde es dann vom Stadtrat Luban und dann von der BVV. Der Stadtrat und auch wir haben gesucht: Welche Schule könnte das realisieren, finden wir mehrere oder nur eine oder gar keine? Letzten Endes entschied sich das Kollegium der Uckermark-Schule dafür. Das ist ein viel Zeit beanspruchendes Projekt der zweiten Hälfte der 70er Jahre gewesen.

Ja. Welche eigenen Interessenschwerpunkte waren für dich besonders relevant jetzt in den letzten 30 Jahren?

Analyse sozialer Ungleichheit bei der Landbevölkerung

Ich stellte immer die Frage nach der sozialen Ungleichheit, ich bin ja Soziologe und komme aus der Bildungsforschung. Ich habe schon als Student in Tübingen und Berlin Bildungsforschung und Bildungswerbung mitgemacht. Bildungsforschung an der Uni als Bildungswerbung. Wir sind als Tübinger StudentInnen mit dem Fahrrad auf die Schwäbische Alb gefahren und haben die Bauern befragt, warum schicken Sie ihren Sohn, besonders auch Ihre Tochter nicht länger auf die Schule, aufs Gymnasium? Die meisten haben dann immer gesagt: »Hano, warum auch nicht, aber es gibt keine Busse und auch keine Schulen in der Nähe.« Wir haben relativ rasch festgestellt, wenn man ein öffentliches Verkehrsnetz aufbaut, was damals noch fehlte, dann wird das relativ schnell die Mentalitätsbarrieren bei der Landbevölkerung ändern, und das traf auch zu.

Bildungswerbung bei ArbeiterInnen

Später in Berlin haben wir vom Pädagogischen Zentrum aus Bildungswerbung bei ArbeiterInnen gemacht, ich durfte als junger Referent nur helfen. Einmal sind wir zu Siemens gegangen, es gab eine riesige Betriebsversammlung Anfang der 70er Jahre. Meine Chefs haben den ArbeiterInnen gesagt: »Schicken Sie ihre Kinder, und zwar Jungen wie Mädchen, auf längere Schulen! Vor allen auf Gesamtschulen! Sie wollen doch, dass ihre Kinder eine anständige Berufsausbildung machen, vielleicht auch studieren!« Sozialer Aufstieg war die Hoffnung, damals ein klassisches SPD-Projekt hier in Berlin. Das war so eine dieser Leitlinien, der ich heute noch folge, also, wie kann man soziale Ungleichheit über Bildung abbauen – heute würden wir eher über Inklusion im weitesten Sinn sprechen.

Forschungs-
interessen in der
Begleitforschung

Den sonderpädagogischen Aspekt habe ich aber immer parallel dazu verfolgt. Ich bin dann auch relativ früh in die einschlägigen Fachdisziplinen mit reingegangen und in die Verbände, um diesen Diskurs sozusagen mitzukriegen und mitzuführen. 1980 habe ich zusammen mit Jutta Schöler die »Arbeitsstelle Integration – integrative Förderung« aufgebaut, zuerst an der PH, dann an der TU. Und ich wollte weiter forschen. Deswegen war ich ja auch in der Uckermark-Schule mit Peter Heyer und der Sonderpädagogin Gitta Zielke, die später Hochschullehrerin in Köln wurde, dabei, den Prozess integrativer Unterrichts- und Schulentwicklung zu begleiten: Wie funktioniert das im Unterricht, wie funktioniert das in der Kooperation der Lehrkräfte, der SonderpädagogInnen und der Allgemeinen Lehrkräfte, was kann die Schulleitung beitragen, wie entwickeln sich die sozialen Beziehungen der Kinder? Wir haben weniger untersucht, was man aus heutiger Sicht machen würde, wie ist die generelle Schulentwicklung damit verknüpft. Das haben wir nicht untersucht, aber dadurch ist das Uckermark-Modell nicht nur entstanden, sondern zugleich auch begleitet worden.

Welche MitstreiterInnen waren aus deiner Sicht besonders wichtig?

MitstreiterInnen

Also einmal Peter Heyer, der ja ein ausgewiesener Grundschulpädagoge ist und auch im Pädagogischen Zentrum tätig war, er stieg in das Uckermark-Projekt von Anfang an ein. Er hatte fantastische Kenntnisse der konkreten Probleme der Grundschule und der Lehrkräfte, war auch im Grundschulverband immer aktiv und besaß einen Überblick über die Entwicklungen in anderen Bundesländern. Das war ein ganz wichtiger Kooperationspartner.

Verknüpfung Soziologie und Erziehungswissenschaften

Auf der Theorieebene habe ich sehr viel mit Annedore Prengel gearbeitet, die hat ja auch bei mir ihre Qualifikationsarbeit geschrieben, sie war immer theoretisch wie praktisch anregend. Meine Orientierung war immer auch, ich bin ja einerseits Soziologe und andererseits Erziehungswissenschaftler, in beiden Feldern gleichzeitig up to date zu bleiben. Da in beiden Feldern drin zu bleiben, das war in den 80er Jahren ein ganz großer Schwerpunkt für mich. Ich habe den Vorläufer der Sektion Kindheitsforschung mitgegründet in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, dadurch ist das berühmte Buch Kriegskinder, Konsumkinder, Krisenkinder entstanden, in der Kooperation mit anderen KindheitsforscherInnen. Unter ihnen war ich immer der Einzige, der dann sagte, außer den gesunden Kindern gibt es auch noch behinderte Kinder, das fanden sie sehr exotisch. Damals war das so, das war wie ein Außenseiterthema. Auch bei den KindheitsforscherInnen.

Ein weiterer interessanter Kooperationspartner auf der fachwissenschaftlichen Ebene war Klaus Hurrelmann, der ja einerseits Kindheits- und Jugendforscher war und andererseits immer auch auf die Gesundheitsrisiken von Kindern, die Beeinträchtigungsprobleme und natürlich auch die soziale Benachteiligung von Kindern und Jugendlichen in seinen empirischen Studien hingewiesen hat.

Wichtige Kooperationspartner kamen aus dem Deutschen Jugendinstitut München, mit vielen Projekten im Bereich der Kinder und Jugendlichen und später auch im Bereich beeinträchtigte und benachteiligte Kinder. Ich hatte also eine sozialpädagogische Verankerung, eine soziologische Verankerung, eine schulpädagogische Verankerung und das Thema Integration Behinderter kam als spezifische Pädagogik hinzu.

Allgemeine Erziehungswissenschaft und die Dimension Behinderung

Die allgemeine Erziehungswissenschaft hat sich in den 70er und 80er Jahren nicht damit beschäftigt. Das erste Mal, wo Sonderpädagogik und Erziehungswissenschaft offiziell ins Gespräch kamen, war 1992 auf dem Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft, als die Sektion Sonderpädagogik und die Sektion Allgemeine Schulpädagogik miteinander ein gemeinsames Symposium durchführten. 15 Jahre nach den ersten Integrationsversuchen und fast 20 Jahre nach den Empfehlungen des Deutschen Bildungsrates von 1973. Jakob Muth, der ja diese Empfehlung als Vorsitzender der Fachkommission weitgehend formuliert hat, wurde für mich wie andere ein wichtiger informeller Gesprächspartner. Auch die Integrationsforschertagungen sind ja zusammen mit Jakob Muth entstanden.

Welche Bezüge gab es zur Praxis?

Praxisbezug Begleitforschung vor Ort

Mein Praxisbezug war erst einmal sechs Jahre lang die Uckermark-Schule. Mindestens jeder Dienstagvormittag war für die Uckermark-Schule reserviert, das fand ich immer sehr praxisnah und anregend. Der Besuch war immer verbunden mit mehreren Stunden in einer Klasse und Gesprächen mit dem Schulleiter/der Schulleitern und seinem/ihrem StellvertreterIn, die beide sehr engagiert waren. Wir waren auch als Dreierteam mit Peter Heyer und Gitta Zielke immer da, wenn es Konflikte gab und die gab es natürlich, dann waren wir in der Rolle der ModeratorInnen. Gleichzeitig haben wir unsere Untersuchungen gemacht. Ich war für den Bereich der sozialen Beziehungen zuständig und habe sechs Jahre lang halbjährlich soziometrische Untersuchungen durchgeführt. Das war eine der Grundlagen für das Buch, da gibt es ein ganzes Kapitel dazu. Das habe ich dann auch später, in den 90er Jahren, in den Integrationsschulen in Brandenburg verfolgt: Wie entstehen Freundschaften, wie entsteht Ausgrenzung innerhalb der Klassen, betrifft das besonders Kinder mit physischen Behinderungen oder betrifft das Kinder mit Aggressivität usw. In diesem Kontext waren für mich auch andere ForscherInnen relevant, die sich generell auf soziale Beziehungen in Schulklassen konzentrierten, zum Beispiel Lothar Krappmann.

Was sind aus deiner Sicht die größten Herausforderungen gewesen, sowohl persönlich als auch für das Feld?

Forschung ohne Ressourcen

Herausforderungen persönlich? Ich weiß nicht, was du mit Herausforderung meinst. Konflikte hatte ich da nicht. Die Herausforderung war, dass man praktisch mit Null Ressourcen Forschung state of the art machen sollte und auch den Anspruch hatte, dass das auf dem Level der anderen Studien stattfindet. Die empirische Schulforschung war damals erstens relativ mager im sonderpädagogischen Bereich, seit Jahrzehnten, zweitens war ich selbst ja skeptisch, ob rein quantitative Studien ausreichen, ich war immer für Triangulation. Wir wollten ja auch nicht gucken und dann mit den Daten nach Hause gehen und irgendwas rechnen. Damals waren die LehrerInnen extrem misstrauisch.

Einflussnahme und Beobachterrolle in der wissenschaftlichen Begleitung

Hinzu kam: Wir wollten den Prozess begleiten und zugleich mit beeinflussen. Diese komplizierte Lage der wissenschaftlichen Begleitung haben wir im Uckermark-Buch beschrieben, sie hat uns immer wieder in die Situation gebracht, dass wir einerseits eine Position haben, die wir auch durchsetzen wollten, aber andererseits uns auch zurückziehen mussten oder auch wollten, weil wir sagten, das beschreiben wir jetzt auch mal, ohne es zu beeinflussen.

Aktionsforschung

Also dies war eine sehr ambivalente Situation, das gilt aber generell für das was damals Aktionsforschung hieß und in der Sozialpädagogik ganz verbreitet war, auch in meiner Fakultät. Die wenigen Leute, die mindestens auch mit quantitativen Daten arbeiten wollten, die galten eher als konservativ, bei manchen als reaktionär. Man muss diese politische Situation an den Hochschulen der 70er und 80er Jahre mitberücksichtigen. Sie war eine zentrale Herausforderung.

Schulversuch in einem Flächenstaat

In den 90er Jahren, als wir auch mit Peter Heyer und dann mit Jutta Schöler zusammen die wissenschaftliche Begleitung in Brandenburg gemacht haben und zugleich am Aufbau des gesamten Integrations-Systems mitwirkten, zusammen mit dem Ministerium, war das schon anders. Da gab es nicht so große Konflikte, weil man das ganze Land als Projekt hatte und nicht mehr eine konkrete verschworene Gemeinschaft einer einzelnen Schule mit 40 LehrerInnen. Da hatte man sowieso keine so enge Beziehung zu einzelnen Lehrkräften und Schulen, wir haben uns da zwar auch Unterricht angeguckt, aber wir haben zum Beispiel nie systematisch Unterricht ausgewertet, sondern eher Gespräche geführt, beraten, an Fortbildung mitgewirkt und zugleich umfangreiche Befragungen durchgeführt oder Fallanalysen erarbeitet, um die integrative Realität plastisch werden zu lassen für die künftigen Leserinnen und Leser, also das was man eben mit den begrenzten Ressourcen machen konnte.

Welche Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte sollten nicht in Vergessenheit geraten?

Erkenntnisse aus der Schulforschung

Das ist eine gute Frage. Erkenntnisse sollten nie in Vergessenheit geraten. Es gibt ein schönes Buch über 40 Jahre Schulforschung (mit dem Titel Erziehungswissenschaft auf dem Prüfstand – Schulbezogene Forschung und Theoriebildung von 1970 bis heute von Beate Wischer und Klaus-Jürgen Tillmann). Es hat gar nichts mit Integration und Inklusion zu tun (typisch für die allgemeine Schulforschung damaliger Zeit fast bis heute), wo auch mal geguckt wird, was haben wir eigentlich in 40 Jahren Unterrichtsforschung an Erkenntnissen gewonnen. Und da kann man sagen, man hat relativ viele Erkenntnisse gewonnen. Man weiß heute, was guter Unterricht ist. Man kann ziemlich genau sagen, das ist guter Unterricht, was nicht heißt, dass er überall stattfindet, aber man weiß es. Also es gibt einen Erkenntnisgewinn. Davon bin ich überzeugt. Das gilt auch für Schulentwicklungsforschung. Wir wissen heute, wie sich Schulen entwickeln sollten, das bestimmte Bedingungen oder bestimmte Strukturen oder bestimmte Aspekte berücksichtigt werden müssen, wenn eine Schule sich positiv entwickeln will. Das gleiche gilt für das Thema Gemeinsamer Unterricht, man weiß eigentlich relativ viel. Das muss man jetzt gar nicht inhaltlich aufzählen und man kann sagen, ja, die Forschung der letzten
30 Jahre, auch international, hat zu zahlreichen Erkenntnissen geführt. Darüber bin ich froh – und wir Forscherinnen und Forscher haben viel gelernt. Wer wie ich von der historischen Reformpädagogik seit Ellen Key und John Dewey und Célestin Freinet geprägt war, lernte, das ist alles anregend, aber es reicht nicht aus – man muss Unterricht, Schulentwicklung, das soziale, kulturelle und bildungspolitische Umfeld, die Personalentwicklung der Lehrkräfte und vieles mehr miteinander in Beziehung setzen, um gelingende Bildung zu erreichen für alle.

Und gibt es spezielle Erkenntnisse, wo du sagst, das wäre wichtig?

Guter Unterricht und guter Gemeinsamer Unterricht

Da könnte ich jetzt stundenlang erzählen, das sind die inhaltlichen Aspekte, das sind aber bestimmt zehn oder 15 Aspekte. Es macht jetzt keinen Sinn die alle aufzulisten. Eine Erkenntnis ist: Guter allgemeiner Unterricht und guter Gemeinsamer Unterricht sind fast identisch. Was der Unterschied ist, zwischen den Erkenntnissen der allgemeinen Unterrichtsforschung und vor allem den Erkenntnissen aus der integrationspädagogischen Unterrichtsforschung, ist vielleicht, dass im letzteren eher Teamarbeit eine Rolle spielt. Im ersteren Fall ist es ja immer der einzelne Lehrer/die einzelne Lehrerin, der/die Gegenstand sowohl der Forschung als auch der Realität ist. Das ist vielleicht eine zentrale Unterschiedlichkeit.

Notwendige sonderpädagogische Kompetenz

Der zweite Aspekt ist, dass man heute weniger als je zuvor weiß, dass sonderpädagogische Kompetenz im Gemeinsamen Unterricht mehr bedeutet als gute Teamarbeit bei der Förderung einzelner Kinder. Ich habe jetzt gerade noch einmal ein Buch über die Perspektive im Förderschwerpunkt Lernen gelesen von 2013. Da wird dann immer gesagt, der Blick aufs einzelne Kind soll es sein. Aber das ist ja keine Kompetenz, sondern eine Haltung. Die verlange ich aber auch etwa von einer Grundschullehrkraft, dass sie aufs einzelne Kind guckt, und das ist auch in der allgemeinen Unterrichtsforschung unter dem Begriff individuelle Passung so formuliert. Was ist also dann das sonderpädagogisch Spezifische? Ist es die Kenntnis beeinträchtigungsspezifischer Treatments, etwa für sinnesbeeinträchtigte oder Kinder mit Verhaltensproblemen? Und sollten diese Treatments nicht von den FachlehrerInnen auch beherrscht werden? Das ist ein Thema, was heute unklarer ist denn je, und das ist ja auch eine Erkenntnis. Andererseits ist es aufschlussreich, dass in der Realität in allen Bundesländern ein Zuwachs an SonderpädagogInnen und auch ein Bedarf an SonderpädagogInnen festzustellen ist. Fachlich ist die Rolle der SonderpädagogInnen im Gemeinsamen Unterricht nach wie vor strittig. Das ist eine interessante Frage, die auch zukünftig sicher ein Forschungsthema sein wird.

Und von den eigenen Untersuchungen, was würdest du da sagen, waren die wichtigsten Erkenntnisse?

Blick auf alle Kinder

Das eine ist die Frage der kognitiven Entwicklung aller Schülerinnen und Schüler beim gemeinsamen Lernen, man darf die Frage, wie Kinder mit Förderbedarf sich entwickeln, nicht von der Frage trennen, wie entwickeln sich die übrigen Kinder. Dieser Blick auf alle ist, glaube ich, eine ganz wichtige Erkenntnis aus der integrationspädagogischen Erfahrung, dass man nicht immer nur diesen Tunnelblick auf die Kinder mit Behinderung oder auf Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf hat.

Sozialentwicklung

Das zweite ist, dass man nicht nur auf die kognitive Entwicklung achten darf, sondern auch auf die Sozialentwicklung achten muss, sowohl in der Klasse als auch im außerschulischen Bereich: Sind die Kinder in Freundschaften eingebunden, in soziale Netze, wie fühlen sie sich wohl? Das scheinen mir ganz wichtige Aspekte, die wiederum für alle Jungen und Mädchen gelten. Es gibt in jeder Schulklasse – ob inklusiv oder nicht – auch isolierte oder abgelehnte Kinder und es ist auch eine pädagogische Aufgabe der Lehrkräfte dieses Thema a) wahrzunehmen und b) zu bearbeiten und c) sich dabei vielleicht Hilfe zu holen.

Blick auf die
ganze Schule

Die dritte Erkenntnis ist, dass wir nicht nur auf den Unterricht gucken müssen. Wir müssen schauen, wie innerhalb der Einzelschulen die Unterstützungssysteme für zusätzliche Förderung a) überhaupt aufgebaut werden, b) auch gebündelt werden, also klug organisiert werden, und c) ob sich die Schule auch außerschulische Unterstützungen abrufen kann. Das entsteht ja in manchen Bundesländern jetzt mit Beratungs- und Unterstützungszentren oder auch mit Selbsthilfegruppen usw., aber es ist nicht nur Unterricht, es ist nicht nur Schulleben, Ganztagsschule ist da ein Stichwort, sondern es ist eben auch die Vernetzung im helfenden, unterstützenden, aber auch im kulturellen, sozialen und sportlichen Umfeld, was inklusive Bildung ausmacht.

»Passt« Schule auf alle Kinder?

Wenn ich jetzt an meine Anfänge denke, mit dem Bezug zur sozialen Ungleichheit, dann ist heute mehr denn je natürlich die Frage, wie weit auch das Curriculum der Schule und seine Organisationsstruktur auf Kinder aus sozial randständigen Bereichen passt, aber auch aus Flüchtlingsbereichen, aus Zuwanderbereichen, die vielleicht andere Traditionen haben. Das geht natürlich weit über sonderpädagogische Fragen hinaus. Deswegen ist die Frage: Was ist Sonderpädagogik, was ist Allgemeinpädagogik und was ist Sozialpädagogik und letzten Endes, was ist auch therapeutisch nötig? Also diese vier Felder, die sind heute unklar und das ist, glaube ich, auch ein künftiges Forschungsfeld. Die multiprofessionell zusammengesetzte Schule ist eine Perspektive – unterstellt aber, dass jeder bei seiner Profession bleibt und doch miteinander handelt. Aber wie viel Gemeinsames steckt in den nach wie vor getrennten pädagogischen Berufen? Darüber müsste mehr nachgedacht – und in der Aus-, Fort- und Weiterbildung mehr geredet werden.

Welche Arbeiten zu den theoretischen Grundlagen hältst du für besonders wichtig?

Theoretische
Grundlagen

Zuerst die Klassiker zur Pädagogik der Vielfalt und zu zukunftsfähigen Schulen. Grundlagen sind heute natürlich auch die UN-Konvention, das ist völlig unstreitig. Grundlagen sind für mich die internationale und die deutschsprachige Unterrichtsforschung. Und Grundlagen sind natürlich auch die ganzen wissenschaftlichen Begleitungen der letzten Jahrzehnte in Deutschland in den verschiedenen Bundesländern, aus denen man sehr viel lernen kann. Auch aus dem, wo etwas gescheitert ist oder nicht so erfolgreich war, kann man ja etwas lernen, warum es nicht erfolgreich war oder gescheitert ist, das ist ein ganz wichtiger Aspekt.

Veränderte Kindheit und gesellschaftliche Entwicklung

Natürlich sind die Fragen der veränderten Kindheit zentral, wenn ich erklären will, warum sich Kinder heute nicht mehr so verhalten wie in meiner Schulzeit. Da saßen wir alle ganz brav da, mit 40 Leuten in der Klasse, da hat es ja funktioniert, weil wir so sozialisiert waren. Das ist heute sicher nicht mehr der Fall. Die veränderte Sozialisation durch Individualisierung und Pluralisierung ist natürlich die zentrale Ausgangsbasis für Lernen überhaupt. In der Schule findet ja nicht individuelles Lernen kontextfrei statt, es ist immer zugleich Lernen in der Gruppe, und auch die gesellschaftliche Einbindung von Schule in gesellschaftliche Entwicklungsprozesse ist natürlich gerade beim Thema Inklusion ganz zentral, also die ganze Frage: Wie weit driftet die Gesellschaft auseinander, an welchen Stellen geht das auseinander, wer propagiert aus welchen Gründen für welche Separationen? Das sind spannende Fragen bis heute.

Inklusionsbegriff

Gemeinsamer Unterricht geht heute ja weit über die Integration Behinderter hinaus, deswegen diskutieren wir ja auch einen spezifischen und einen weiten Inklusionsbegriff. Meines Erachtens gehört dreierlei zusammen: die spezifische Förderung einzelner Kinder – auch von besonders Talentierten –, die respektvolle Beachtung anderer Heterogenitätsdimensionen und ein an universalistischen Werten orientiertes Curriculum, das sich etwa an den Klafki’schen Schlüsselkategorien orientierten kann.

Armut

Die meisten Förderkinder sind bekanntlich Kinder aus sozial, oft auch gesundheitlich belasteten Familien. Das gilt sicher für die Förderbereiche Lernen, Verhalten und Sprache, aber auch zum Teil für Kinder mit Förderbereich geistige Entwicklung (was meist tabuisiert wird). Das müsste stärker in den Mittelpunkt der Ausbildung der Lehrkräfte gerückt werden.

LehrerInnen aus der Mittelschicht

Die meisten Lehrkräfte kommen aus kleinbürgerlichen und bürgerlichen Verhältnissen, sind eher nicht mehr wie früher AufsteigerInnen (außer vielleicht Lehrkräfte mit Migrationshintergrund). Hinzu kommt: Die meisten Lehrkräfte sind Frauen in der Grundschule, zu über 80 %. Sie sollen jetzt mit diesen schwierigen Knaben aus ihnen in der Regel fremden sozialen Milieus umgehen, mit Kindern, deren Verhalten sie vielleicht als unangenehm erleben, das hat für sie sicher eine emotionale Dimension. Und das gilt natürlich in der Vorpubertät und in der Pubertät noch verstärkt. Das ist ein genereller schulpädagogischer Konflikt – über den wenig gesprochen und zu wenig geforscht wird. Der Konflikt hat viel mit der Frage nach Inklusion zu tun, also wieweit grenzen wir indirekt durch Körpersprache, durch Mimik und Gestik aus, obwohl wir es über unsere Einstellung gar nicht wollen – wie gelingt es uns also, den Konflikt zwischen Anspruch (auf Zuwendung und Respekt für alle) und latenter Abneigung in »authentisches« Verhalten produktiv zu übersetzen?

Körper

Herbart hat als Grundproblem der Schule die Verschiedenheit der Köpfe benannt. Er hat damals nur an die Köpfe gedacht, aber die Menschen sind ja nicht nur Kopf. Der Körper, insbesondere der beschädigte, ist, glaube ich, durch die Behindertenintegration verstärkt in die Schulpädagogik reingekommen (die Reformpädagogik mit ihrem learning by doing hob zwar das praktische Lernen, die körperliche Anstrengung hervor, aber von gesunden Körpern. Der beeinträchtigte und der kranke Körper wurden ausgeblendet, tabuisiert). Das scheint mir ein ganz wichtiger Aspekt zu sein. Wir sprechen heute von bewegter und auch von gesunder Schule. Dabei müssen wir aufpassen, dass wir die dauerhaft kranken, die vielfältig beeinträchtigten Kinder in der sportlichen und gesundheitsbewussten Schule nicht faktisch ausgrenzen. Wir müssen also sensibel auch auf physische Probleme und Schwächen und vielleicht Dauerkrankheiten achten, ein ganz wichtiger Aspekt von Inklusion.

Welche empirischen Forschungen hältst du für besonders wichtig?

Empirische Forschung
im Wandel

Ich halte empirische Forschungen in Sachen Inklusion generell für wichtig, auch nach so vielen Jahren integrationspädagogischer Forschung. Ich selbst versuche alle paar Jahre entsprechende Überblicke herzustellen, angesichts der sehr unkoordinierten Einzelarbeiten nicht ganz einfach. Dabei halte ich auch die Forschungsdefizite fest. Dabei fiel mir immer schon auf: Die Sonderschulen sind über viele Jahrzehnte empirisch terra incognita gewesen. Es wird oder wurde ganz viel behauptet, was dort stattfindet. Es wurde auch viel von Lehrkräften berichtet, das will ich alles gar nicht abwerten, aber auf einer wissenschaftlichen Ebene der empirischen Schulforschung ist das in der Regel nicht den Standards entsprechend, weil es subjektive Eindrücke sind, die als solche erst einmal subjektiv wahr sind, aber die meist nicht verallgemeinerbar sind. Die sonderpädagogischen Lehrstühle haben lange Zeit vorwiegend Entwicklungsarbeit und Curriculumsarbeit gemacht, haben sich ganz viel an Diskussionen, auch an Theoriediskussionen beteiligt, aber in der Regel nicht empirisch gearbeitet, weil sie auch in ihrer Biografie als Lehrerin oder Lehrer, die dann irgendwann mal promoviert haben und dann HochschullehrerIn wurden, gar nicht in diesen Bereichen kompetent waren. Damals, in den 70er und 80er Jahren, gab es ja im Grunde genommen noch keine Drittmittelforschung für
(sonder-)pädagogische Forschung. Das hat sich dann in den 90ern etwas geändert und heute ist es so, dass die jungen MitarbeiterInnen fast nur noch Empirie machen und fast nur noch Drittmittel organisieren müssen oder dürfen, weil sie sonst nicht Karriere machen; der pädagogische Aspekt kommt dabei oft zu kurz und viele haben keine eigene schulpraktische Ausbildung und Erfahrung als Lehrkraft.

Wenig Kenntnisse über Sonderschulen

Erstaunlich, dass wir etwa bei der Schule für geistige Entwicklung oder der Schule für körperlich-motorische Entwicklung ganz wenige Kenntnisse darüber haben, was dort tatsächlich stattfindet, welche Qualifikationen real erworben, welche Welteinstellungen, welche sozialen Netzwerke entwickelt werden, welche individuellen Treatments angewandt werden und welche jeweiligen Effekte sie haben usw. Man hat sich stattdessen sehr früh durch die Aufträge der Ministerien auf die wissenschaftliche Begleitung von Schulversuchen im Bereich gemeinsames Lernen konzentriert. Diese Studien waren alle ganz akzeptabel, das kann man so sagen. Sie waren und sind interessant, mit durchaus unterschiedlichen Schwerpunkten und Ergebnissen und auch methodischen Ansätzen.

Empirische
Sonderpädagogik

In den 2000ern ist eigentlich überhaupt erstmals zusammen mit PISA und diesen Diskussionen die Empirie verstärkt in die Sonderpädagogik hineingekommen, vor allem über Qualifikationsarbeiten. Seit die UN-Konvention die Länder zwingt, Inklusion auszubauen, gibt es auch verstärkt wissenschaftliche Begleitung des Prozesses als Gesamtprozess. Themen sind jetzt nicht nur die Lernbedingungen im Unterricht, das findet zwar immer noch statt als Begleitthema, sondern es sind eher auch systemische Aspekte: Schulentwicklung, Unterstützungssysteme, Regionalentwicklung, Kostenentwicklung und so weiter.

Migration und Gemeinsamer Unterricht

Wo es Defizite gibt, ist nach wie vor die Frage nach den Kindern mit Migrationshintergrund und deren Familien. Es gibt meines Wissens nur die Studie von Merz-Atalik und sonst gar nichts, und die ist mit 15 Jahren auch schon veraltet. Das ist ein ganz großes Forschungsfeld. Auch die Verbindung von gemeinsamem Lernen mit fachdidaktischen Fragen ist noch kaum untersucht, und nicht zuletzt die Frage, ob und wie selektive Schulformen wie das Gymnasium sich dem gemeinsamen Lernen öffnen können.

Jungenspezifische Forschung

Ein weiterer Aspekt ist nach wie vor genderspezifisch: Wenn man weiß, dass 95 % aller Kinder mit Verhaltensschwierigkeiten Jungen sind, warum findet hier keine jungenspezifische (sonderpädagogische) Forschung statt? Da muss man doch jungenpädagogisch auch theoretisch rangehen, auch die pädagogischen Förderansätze müssten eigentlich gendermäßig kontrolliert werden, sind zum Beispiel Ansätze wie ETEP oder RtI für Mädchen und Jungen unterschiedlich wirksam? Ich bin überrascht, dass solche unter anderem genderspezifischen Fragen überhaupt nicht aufgegriffen werden.

Regionale
Schulentwicklung

Ein weiterer Aspekt ist die Frage der Verknüpfung von Schulentwicklung und Bildungsregion. Das verlangt in Vernetzungsstrukturen und systemisch zu denken und zu forschen, etwa, wie die Kommunikation mit unterschiedlich fachlichen und auch dienstrechtlich unterschiedlichen Institutionen optimiert werden kann. Das ist ein weites Forschungsfeld, das ist überhaupt noch nicht zureichend untersucht, weil das keine einzelne Qualifikationsstudie machen kann, sondern das kann nur ein großer Auftrag der Region oder gar des Landes sein und dann müssen auch die richtigen Ressourcen vorhanden sein.

Insgesamt hat die Forschung zum gemeinsamen Lernen eine gute historische Grundlage und kann nun mit besseren öffentlichen Mitteln und dem qualifizierten Nachwuchs die Leerstellen aufgreifen.

Und von den wissenschaftlichen Begleitungen gibt es da welche, wo du sagst, die findest du besonders herausragend?

Mehrebenen­betrachtungen

Ich finde überall die besonders produktiv, die auf mehreren Ebenen untersuchen. Also wenn die Unterrichtsebene einbezogen wird, die einzelnen Schulebenen, aber auch die regionale Ebene und auch die Landesebene. Heimlich macht es zum Beispiel im Bayerischen BIS-Projekt, das finde ich gut. Hamburg hat im Ansatz versucht solche systemischen Aspekte mit zu untersuchen. Ansonsten ist die wissenschaftliche Begleitung in den einzelnen Bundesländern aus meiner Sicht unterfinanziert, nach wie vor (aber es wird besser). Und meines Erachtens ist es auch nicht mehr nötig zu untersuchen, was ist guter Unterricht. Das wissen wir. Also das ist nicht mehr erforderlich. Interessanter ist zu untersuchen, wie kann die Akzeptanz erhöht werden.

Du meinst Gemeinsamen Unterricht?

Akzeptanzforschung

Akzeptanz des Gemeinsamen Unterrichts oder auch der Aufnahme von Kindern mit Behinderungen durch andere Eltern, durch die Lehrkräfte, aber auch Akzeptanz bei Schulträgern. Bei der Akzeptanzforschung müsste man die bisherige sozialpsychologische Forschung heranziehen, die es ja schon seit 70, 80 Jahren gibt, um sie zu übersetzen auf unsere Fragestellung. Das gilt auch zum Beispiel für die Akzeptanz von Gemeinsamem Unterricht bei bestimmten Ethnien, wo man ja den Eindruck hat, dass sie größere Distanz zur Inklusion haben. Solche Studien scheinen mir besonders wichtig und auch produktiv zu sein. Was ich bedaure ist, dass es keine Institutionen in der Bundesrepublik gibt, die diese ganzen Begleituntersuchungen der Integration und Inklusion systematisch aufarbeiten – keine Uni, kein Bundesinstitut, keine KMK, kein Länderverbund. Das bedauere ich sehr, dadurch geht viel schon gewonnene Erfahrung und viel Wissen verloren.

Was waren aus deiner Sicht die interessanten Streitpunkte innerhalb der Community?

Welcher Community denn?

Der Forscherinnen und Forscher der Integrationspädagogik.

Zitationszirkel

Ein Streitpunkt ist sicher die Frage der Aufrechterhaltung oder Nichtaufrechterhaltung von Behinderten-Kategorien. Ob das ein interessanter Aspekt ist, weiß ich nicht. Meines Erachtens ist daraus auch nichts Produktives entstanden, also gibt es einfach unterschiedliche Positionen. Das ist aber nicht Community. Der Begriff der Community setzt ja immer voraus, dass es so was gibt wie »Wir sind ein Volk«, eine Gemeinschaft (die damit auch »die Anderen« erzeugt). Aber es gibt Leute, die an gemeinsamen Strängen ziehen und andere, die das eher getrennt davon betreiben. Es gibt in der Tat so was wie getrennte, verfeindete Communities, also Leute die nur noch miteinander kommunizieren, auch im Feld Sonderpädagogik, die sich dann »verschworen« nennen dürfen. Das ist ein sehr verbreitetes sonderpädagogisches Phänomen, wenn man Texte der Sonderpädagogik liest, wer wird da zitiert, auf wen beziehen die Leute sich. In der Regel auf andere SonderpädagogInnen eigener Position, und bleiben so im inner circle ihrer Community. Das ist ganz problematisch.

Das gilt aber tendenziell auch für die Allgemeine Schulpädagogik, die Gruppe will ich nicht ausschließen. Und das ist natürlich ebenfalls problematisch. Die Inklusionspädagogik hätte deshalb eine wichtige Rolle der Vermittlung von unterschiedlichen Zugängen zu Wissenschaftstraditionen. Die wird aber bisher nicht so recht wahrgenommen; die meisten Einzelpersonen verorten sich irgendwo in diesem Meinungsspektrum, etwa wie bei der Zukunft der Förderschulen oder in der Diskussion um Kategorien, soll man die aufrechterhalten oder nicht. Das ist aber noch keine Position die sagt, dass aus den Vor- und Nachteilen beider Positionen eine Perspektive entwickelt wird. Auch hier ist dringender Theorieentwicklungsbedarf. Feuser hat mit seiner Allgemeinen Pädagogik einen großen Versuch unternommen. Ob es ihm gelungen ist, weiß ich nicht, weil er relativ wenig Bezug zur herkömmlichen traditionellen Unterrichts- und Schultheorie (und der empirischen Unterrichts- und Schulforschung) genommen hat, stattdessen eher zu spezifischen Traditionen, die nicht die Mehrheitspositionen in der deutschen Erziehungswissenschaft sind. Das ist sein gutes Recht, aber ich glaube nicht, dass das ausreicht.

Meines Erachtens muss man sowohl die Empirie ganz konkret und quantifiziert wahrnehmen, auch als Hintergrund für pädagogische Theorien mittlerer Reichweite für Lernen und Schulentwicklung, und dies einbetten in eine vorsichtige Beschreibung von Gesellschaft heute. Das wäre noch keine Gesellschaftstheorie – ein Anspruch, den man kaum realisieren kann. Annedore Prengel hat das jetzt versucht. Ich weiß nicht, ob du den Text kennst.

Ja.

Der demnächst erscheinen soll, wo sie versucht die menschenrechtliche Dimension der UN-Konvention mit der Pluralisierung zu verbinden: Individualisierung und Gleichheit in der Differenz. Also ihr alter theoretischer Ansatz. In der Nachmoderne sei das also ein zukunftsfähiger Bildungsbegriff. Das ist auf einer abstrakten Ebene sehr schön und richtig. Auf der konkreten Ebene wird es dann schwierig; also auch hier haben wir einen dringenden Theorie-, zumindest einen Diskursbedarf. In einer Community gibt es zu viel Zustimmungsreden und zu wenig sachbezogene Dispute, die über unterschiedliche Argumente zu neuen Erkenntnissen führen.

Und die Gruppe derjenigen, die wissenschaftliche Begleitung der Modellversuche gemacht haben, die könnte man ja doch schon als Gemeinschaft im weiteren Sinne benennen, oder?

Netzwerkbildung

Ja, ja, das hat auch funktioniert. Ab Mitte der 80er Jahre gab es jedes Jahr diese Forschertreffen. Sie waren ganz wichtig, dadurch sind überhaupt erst Netzwerke entstanden und auch gegenseitige Bezüge. Man hat auch voneinander gelernt bis hin zum Austausch von Fragebögen und Items, das hat richtig funktioniert. Ich fand es immer sehr produktiv und es ist auch gelungen dort Nachwuchs einzubeziehen. Das zeigen gerade die letzten Tagungen und das finde ich ganz hervorragend. Es ist auch heute ein ganz wichtiges Netzwerk.

Und gab es innerhalb dieser Gemeinschaft Streitpunkte, weil da ja auch eigentlich die Positionen interessant sind, wo man eben nicht einer Meinung ist.

Indirekte Kritik

Ich glaube man hat eher die Streitpunkte vermieden. Wenn ich mit der Kollegin Y nicht über ihre Art und Weise, damit umzugehen, einverstanden bin, dann habe ich dazu auch nichts gesagt, aber ich habe mich auch nicht auf sie bezogen. Das ist eine indirekte Art und Weise der Kritik, sag ich jetzt mal. Das ist aber sehr verbreitet in der Wissenschaft, es sei denn, man will sich profilieren und an einem abarbeiten. Das macht man ja manchmal. Aber das hat man, glaube ich, innerhalb der integrationspädagogischen Community im Sinne der Integrationsforschungstagungen nicht gemacht. Mündlich schon, da gab es zum Teil durchaus heftige Diskussionen, aber schriftlich eher selten.

Kontroverse um Inklusion und
Integration

Ich weiß, ich habe mich einmal fürchterlich über Andreas Hinz aufgeregt und das auch öffentlich in einem Text dokumentiert. Nämlich seine Behauptung, Integration sei additiv und Inklusion sozusagen die höher entwickelte Form (und dies tabellarisch gegeneinandergesetzt). Dies fand ich ganz falsch. Habe das auch dargestellt, das war’s dann. Solch eine innere Kontroverse innerhalb der IntegrationsforscherInnen und -befürworterInnen wurde nicht aufgegriffen, etwa von anderen, die dann sagten so und so, vielleicht doch dann so. Also in Einzelfällen ja, aber in der Regel hat man diese Kontroversen, glaube ich, nicht groß geführt.

Dimension
Geschlecht

Man muss dabei auch sagen, in den 80er Jahren waren ganz andere Themen kontrovers und wichtig. Genderforschung unter dem Stichwort »Frauen und Schule« war ein großes Thema, mit zum Teil sehr einseitigen Positionen. Das war ein zentrales Thema, wogegen zum Beispiel »Frauen und Behinderung« überhaupt kein kontroverses Thema war, das Ulrike Schildmann als erste aufgegriffen hat.

Insgesamt kann man sagen, dass innerhalb der Integrationspädagogik nicht so kontrovers diskutiert wurde, vielleicht war auch der Außendruck zu groß. Gern sprachen ja die VerteidigerInnen des Sonderschulsystems von der »italienischen Seuche«, die es in Deutschland zu verhindern gälte, und von uns als »SozialromantikerInnen«. Da streitet man sich öffentlich besser nicht so sehr. Heute sollte man es dafür umso mehr tun.

Die Bezüge zu den anderen Teildisziplinen und anderen Forschungszweigen würden mich noch interessieren, zu den anderen Teildisziplinen der Pädagogik, sei es feministische Pädagogik, Migrationspädagogik und eben auch Gender und Disability Studies.

Gender, Behinderung, Migration

Die Pädagogik der Vielfalt war ja von Anfang an dabei, also bei Andreas Hinz, bei Annedore Prengel und auch bei mir. Immer mit diesen drei Aspekten: Gender, Behinderung, Migrantenkind; sexuelle Vielfalt war damals kein Thema. Beim Thema ethnische Herkunft waren die zugewanderten TürkInnen und ihre Einstellung zu Behinderung ein Thema, deshalb war die interkulturelle Pädagogik wichtig für uns. Das war von Anfang an in der Theorieentwicklung verankert unter dem Aspekt Heterogenität. Es ist, glaube ich, auch heute akzeptiert, dass Inklusion ein Teil von Heterogenitätspädagogik ist. Individuelle Förderung ist nur ein Aspekt unter verschiedenen Aspekten der Beachtung von Heterogenität, man muss ihre spezifischen Maßnahmen aber einbetten in ein generelles pädagogisches Konzept.

Rolle der
Schulsozialarbeit

Der zweite Aspekt, der auch bisher noch zu wenig betrachtet wird, ist das Stichwort »Ganztagsschule« und damit Sozialpädagogik. Also was macht Schulsozialarbeit und was macht Sonderpädagogik? Ist Sonderpädagogik nur Unterricht und Schulsozialpädagogik der Rest? Das wäre ein bisschen verkürzt. Viele SchulsozialarbeiterInnen arbeiten ja auch unterrichtsbezogen, sie sind zum Beispiel bei der Nachhilfe mit einbezogen oder auch an bestimmten Unterrichts-Projekten beteiligt. Und andererseits erhebt die Sonderpädagogik den Anspruch ganztägig relevant zu sein. Diese Verknüpfung wird sicher in Zukunft eine größere Rolle spielen, weil das Personal in Zukunft tatsächlich gemeinsam an einem Ort tätig ist. In der Ganztagsschule sind sie gemeinsam tätig und das gilt auch für die sogenannten Dritten, also die Teams aus den Sportvereinen, Honorarkräfte oder ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Die Schule wird pluralistischer auch im Personal, gerade wenn sie ganztägig offen ist. Diese Verknüpfung muss dann auch eine Theoriekonsequenz haben.

Inklusion außerhalb der Institution Schule

Inklusion ist mehr nur guter Unterricht oder gemeinsames Lernen oder auch gemeinsam Freizeit verbringen. Deshalb sind alle sogenannten Nachbardisziplinen einzubeziehen: Bei der beruflichen Ausbildung brauchen wir die Berufspädagogik. Bei der inklusiven sozialen und kulturellen Arbeit brauchen wir die Theorie der Sozialen Arbeit. Unter Aspekten inklusiver Arbeit mit MigrantInnen und Flüchtlingen brauchen wir die interkulturelle Bildung. Für inklusiven Unterricht brauchen wir die allgemeine Unterrichtsforschung und Schulentwicklungsforschung. Für Akzeptanzfragen brauchen wir die Sozialpsychologie (vor allem wegen der Vorurteilsforschung), wir brauchen auch die Netzwerktheorien und natürlich die Gesellschaftstheorien. Wenn man dem zustimmt, dann ist Inklusionsforschung noch echt eine Baustelle.

Und aber noch einmal zurück zu den anderen Teildisziplinen. Ihr habt es ja schon irgendwie mitberücksichtigt, aber wie war die Kooperation dann tatsächlich mit anderen Forscherinnen und Forschern?

Kooperation mit den IntegrationsforscherInnen war, wie gesagt, oft und produktiv; Kooperation mit anderen ForscherInnen fand eher selten statt, wenn es um Fragen von Integration oder behinderte Heranwachsende ging.

Ja?

Drittmittel

Ja, ich glaube, es hängt mit der damaligen Forschungssituation zusammen. Die damalige Forschungssituation war ja so, dass es Drittmittel praktisch nicht für die Erziehungswissenschaft gab, auch kaum DFG-Mittel und so etwas. Ich habe zwei Anträge gestellt, dicke Papiere, und war Mitantragsteller bei einem Uni-übergreifenden Forschungsantrag zum gemeinsamen Lernen – erfolglos. Das wurde erst später besser, aber auch dann mussten es immer Modethemen sein. Integration war kein Modethema. Heute wird es ein Modethema, aber damals war es keins.

Kooperation mit anderen Disziplinen

Die Zusammenarbeit mit der Grundschulpädagogik, mit der Sekundarstufenpädagogik, mit der Sonderpädagogik, später mit der Psychologie und den KindheitsforscherInnen habe ich immer als Lernender erlebt, aber da ich als Pädagoge und als Sozialwissenschaftler unterschiedliche Qualifikationen und Zugänge hatte, habe ich mich oft als Mittler, als Verbinder wahrgenommen, als jemand, der verschiedene Blicke hat. Deshalb haben mich inklusive Themen, wie die sozialen Beziehungen oder die Kindheitsentwicklung, interessiert, also gesellschaftliche Aspekte, und ich habe zugleich immer nach dem pädagogischen »Nutzen« gesucht. Im Projekt Integration verhaltensauffälliger Kinder konnten wir wunderbar mit SonderpädagogInnen und Schulpsychologie aus der Praxis einerseits, mit der psychologischen Lehr- und Lernforschung andererseits zusammenarbeiten. Die übrige Erziehungswissenschaft war an anderen Themen interessiert. Vielleicht hat man auch früher weniger das Bedürfnis nach großen gemeinsamen Projekten gehabt.

Multiperspektivität in der Forschung

Theoretisch war es zwar immer klar, dass man sich vernetzen sollte, und das wurde ja auch in den Begleitprojekten realisiert. Dort musste mindestens ein Didaktiker/eine Didaktikerin sein, ein Grundschul- oder Sekundarschulpädagoge/eine Grundschul- oder Sekundarschulpädagogin, das war auch immer der Fall. Es musste immer ein Empiriker/eine Empirikerin dabei sein und es musste auch immer ein Sonderpädagoge/eine Sonderpädagogin mitwirken. So war es bei unseren Projekten hier in Berlin und Brandenburg, so war es aber auch in Hamburg oder in Bremen. Wenn ich mir die heutigen großen Begleitprojekte anschaue, dann fehlt meist immer noch Schulsozialarbeit. Das ist ein Mangel, der geheilt werden sollte. Aber das erhöht auch die Komplexität der Forschungsprojekte.

Welche internationalen Forscherinnen und Forscher waren für dich bedeutsam?

Internationale Perspektiven

Ich habe mich ganz stark auf die Schweizer und Österreicher konzentriert, die uns weit voraus waren, was die Forschung betrifft. Die englisch-amerikanische Forschung habe wir eher rezipiert, also wir haben nicht Kontakte mit denen gepflegt, sondern wir haben die rezipiert. Fanden wir auch immer ganz spannend, weil wir uns immer fragten, ob das für uns relevant ist. Wir nahmen ihre Ergebnisse als Arbeitshypothesen mit, und mich hat die methodische Seite besonders interessiert. Ansonsten war die Integrationsforschung ein deutschsprachiges Netzwerk, aus der Schweiz, Österreich, Südtirol, den bundesdeutschen Ländern. Die DDR war ohnehin außen vor, sie betrachtete die Integration behinderter Kinder in die allgemeine Schule als »kleinbürgerlichen Individualismus« und verbot die Einfuhr von Integrationsliteratur – und wir haben erst nach der Wiedervereinigung viele LehrerInnen getroffen, die sich integrationspädagogisch auf den Weg machten. Heute würde man natürlich als erstes nach den USA oder nach Großbritannien gucken. Großbritannien war für uns das Eldorado der Binnendifferenzierung. Skandinavien war der Sehnsuchtsort von Gesamtschulen und kindgerechten Schulbauten. Jutta Schölers integrativer Sehnsuchtsort war Italien ohne Sonderschulen, aber geforscht haben die nicht.

Wo siehst du in der Praxis noch zukünftige Aufgaben und Herausforderungen.

Herausforderungen für die Praxis

In der Praxis sehe ich zum einen das Problem, dass die Ressourcenfrage höchst umstritten ist und den Inklusionskonsens bedroht. Das zweite Problem sehe ich in der bisherigen Nichteinbeziehung von SchulsozialarbeiterInnen, die zur Rhythmisierung des inklusiven Ganztages beitragen könnten. Ich erkenne auch, dass die meisten Einzelschulen innerschulisch ihre Bündelung oder ihre Konzentration auf alles, was nicht normaler Unterricht ist, noch nicht organisiert haben, wie das in Bremen mit den Zentren für unterstützende Pädagogik gelungen ist. Solche gebündelten Ressource Centers sind meines Erachtens dringend geboten, wenn man zusätzliches Personal und auch zusätzliche Aufgaben übernimmt. Das sehe ich als ein zentrales Problem im Augenblick. Nicht zuletzt müssen wir durch die Entwicklung inklusiver Fachdidaktiken und den Ausbau der Lernbegleitung in der Sekundarstufe zu deutlich besseren Schulabschlüssen kommen. Über allem steht jedoch die Frage, welchen Beitrag die inklusive Forschung beitragen kann zur Überwindung eines Doppelsystems von inklusiven allgemeinen Schulen und einem betonierten achtfachen Separationssystem.